Kann man einen Traum fangen? Kann man Musik einfangen, festhalten und sie wieder ziehen lassen? Genau das war die Herausforderung bei dem, nun vorliegenden, Buch. Wir, Natalie Jean-Marain und ich haben den transformativen Versuch unternommen, den Klang eines Oratoriums mit Worten einzufangen und mit der Veröffentlichung des Textes diese Worte wieder weiter ziehen zu lassen. Die Kapitelüberschriften sind in englischer Sprache, die den Originaltitel der Musikstücke entsprechen. Die Geschichte selbst wurde in deutscher Sprache aufgeschrieben. Obwohl es immer wieder märchenhafte Elemente in der Geschichte gibt und die Hauptperson ein(e) Mädchen/Frau in unterschiedlichen Altersstufen ist, ist es nicht als Märchen für Kinder gedacht. Streng genommen, eine Art moderner, surrealer Entwicklungsroman.
Erst der Flügelschlag eines Schmetterlings in der Wirklichkeit des Traums verführte Soleil dazu, langsam ihre Augen zu öffnen. Blinzelnd nahm sie wahr, was rund um die Hängematte, in der sie lag, passierte. Die Hängematte hatte sie so aufgehängt, dass jeweils ein Ende am Mond und ein anderes an der Sonne befestigt war, sodass sie nun als Stern frei am Himmel schweben konnte. Das gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit, egal ob ihr die Sonne direkt ins Gesicht schien oder ob sie im sanften Schein des Mondes, dem Flügelschlag der Nachtschmetterlinge, zuhörte.
Doch nun war etwas anders. Sie konnte Musik hören, doch diese Musik schien ihren Ursprung im Nirgendwo zu haben. Zuerst war es nur ein einzelner Ton gewesen, einer jener Töne, die unbewusst aus einem Menschen entstehen, für deren Erzeugung man nichts dafür und auch nichts dagegen tun konnte. Einer jener Töne, die so ursächlich mit dem menschlichen Wesen verbunden waren, dass sie die Schwingungsfrequenz des eigenen Unterbewusstsein auf eine Art berühren, die spürbar dieser Mensch selbst war.
Noch hatte Soleil nicht festgelegt, wer dieser Mensch war, noch, in welchem Alter sie sich gegenwärtig befinden würde und doch war es unüberhörbar für sie, dass dieser eine Ton aus ihr kam.
„Bin ich denn niemand, der im Nirgendwo lebt? “; dachte sie sich leise.
Langsam gesellten sich zu dem einen Ton, ein weiterer Ton und noch ein Ton, schließlich war es ihr, als hätte ein Symphonieorchester in den einzelnen Teilen ihrer Zellen Aufstellung genommen und wartete so auf das Zeichen des Dirigenten. Tausende und Abertausende von Musikern hatten sich eingefunden. Soleil hörte aufmerksam dem Kuddelmudel in ihrem Innern zu und vermochte nicht recht einen Anfang und ein Ende der unterschiedlichen Töne auszumachen.
Mit einem tiefen Atemzug versuchte sie Ordnung, in das Chaos der tausend Musiker zu bringen, diese zu vereinen und als eine Symphonie erklingen zu lassen. Das nächste, das sie wahrnahm, war das Knattern eines alten Postmopeds. Sie schlug die Augen auf. Endlich schlug sie die Augen auf. Sie konnte nichts sehen. Nichts außer ihrer Hängematte, dem Mond, der Sonne und den anderen vertrauten Dingen in ihrer Umgebung.
„Ein Paket für Soleil?“ Die Stimme kam von direkt hinter ihr, so wie das große Brüder machen, um ihre kleinen Schwestern zu erschrecken. Erschreckt drehte sie den Kopf nach hinten. Ein Postzusteller mit der entsprechenden Uniform saß da freundlich grinsend auf seinem Moped und reichte ihr eine Schachtel, in der Größe eines Schuhkartons.
„Wie alt bin ich?“ Fragte Soleil den Postbeamten. „Vielleicht zehn!“ Antwortete dieser, „oder vierzehn vielleicht auch einundzwanzig oder drei.“ Ich bin nicht gut im Schätzen! Er tippte kurz zum Gruß an seine Kappe und verschwand mit dem lauten Geknatter eines löchrigen Auspuffs in der Tiefe des Weltalls.
Sorgfältig betrachtete Soleil die Schuhschachtel. Sie drehte und schüttelte sie, versuchte zu erraten, was das Geheimnis der Schuhschachtel war. Sie konnte sich nicht recht dafür begeistern die Schachtel aufzureißen, war es doch zu unsicher, was darin verborgen lag. Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf und war gerade wieder dabei, an der Grenze zwischen Wachen und Träumen all jene zu treffen, die wie sie, auf den Schaumkronen der sanften Meeresbrandung, das Universum noch als etwas erlebten, das zwischen dem Leben und dem Tod, beides vereinend, nur während des Fluges eines Fregattvogels verstanden werden konnte, als sie aus der Schuhschachtel einen leisen Gesang wahrnahm.
Eine eigenartige Vertrautheit schien sie mit dem Gesang aus dem Inneren der Schuhschachtel zu verbinden. Obwohl sie nicht wusste, was eine Mutter war, weil sie noch ungeboren war, wurde mit jedem Ton, der aus dem Inneren der Schuhschachtel erklang, das Gefühl der Verbundenheit intensiver. Zaghaft und doch mit dem Gefühl der Sicherheit betraut, löste sie die breiten roten Bänder, die um die Schuhschachtel gebunden waren.
Soleil hob in der Erwartung eines gar sonderbaren Wesens vorsichtig den Deckel ab und sah: Holzwolle! Holzwolle, wie diese üblicherweise zur Verpackung von elektronischen Geräten verwendet wurde. Tiefer und tiefer wühlten ihre Hände, in der Holzwolle. Sie genoss das Gefühl ihre Hände, immer und immer wieder, in der Holzwolle verschwinden und auftauchen zu sehen, bis sie eine kleine Schachtel in der Hand hielt.
Es war die handelsübliche Verpackung eines jener kleinen rosaroten oder schwarzen Spielcomputer für Kinder, die mit einem extra Stift gesteuert werden konnten. Während sie noch die beiden Bildschirme aus einander klappte, ertönte das typische Geräusch das selbst so kleine Computer machen, wenn man sie das erste Mal einsetzt. Ein Wesen, halb Mensch und halb Löwe, drehte sich langsam zu ihr um.