In diesem Märchenbuch tummeln sich insgesamt vierzehn Märchen, die vor allem eines gemeinsam haben: Sie sind immer in Verbindungen zu anderen Menschen entstanden. Manche dieser Menschen habe ich nur einmal in einer magischen Mittagspausenstunde getroffen, mit anderen mehr als ein ganzes Jahrzehnt verbracht, mit manchen bin ich ein Vierteljahr im Taxi gesessen und manche habe ich gar nicht getroffen, trotzdem war es eine märchenhafte Begegnung. Märchen sind dabei, die bestellt und nicht abgeholt wurden, ein anderes wurde bestellt, abgeholt, aber nie bezahlt. So haben nun endlich alle diese Märchen auch einen Platz in einem Buch gefunden.
Der Leuchtturm und das Meer
Die enttäuschte Burg
Die eitle Tochter
Drache und Stern
Die Königin und der Mönch
Der Ritter und die Gämse
Die drei Väter
Die Blumenwiese im Klassenzimmer
Die Hexe erwacht
Stier und Löwe
Des Kaisers neue Spiritualität
Der einsame Zwillingsbruder
Die Wölfin im Schafspelz
Der blaue Stein
Der Leuchtturm und das Meer
Es war einmal ein Leuchtturm. Der stand, wie es sich für einen Leuchtturm gehörte, auf einer Klippe. In alten Zeiten waren Leuchttürme für die Schiffe sehr nützlich gewesen, die in der Nacht unterwegs waren, denn so wussten sie, wo das Riff war. Dieser Leuchtturm war ein sehr stolzer Leuchtturm und er stand Tag für Tag und Nacht für Nacht auf seiner Klippe. Er hatte schon unzähligen Schiffen das Leben gerettet. Wie viele konnte man nicht sagen, denn das wusste ja keiner. Ein Unglück, das nicht passiert war konnte auch als Nicht-Unglück nicht gezählt werden. Trotzdem war der Leuchtturm stolz auf seine Aufgabe und freute sich jede Nacht, wenn er sein Licht anknipsen konnte.
Eines Tages sah das Meer den Leuchtturm. Das mächtige und große Meer. Das Meer kannte zwar viele Leuchttürme, doch dieser Leuchtturm gefiel dem Meer. Warum wusste im Nachhinein keiner mehr und doch war es so gewesen. Erst fing das Meer damit an, die Klippe des Leuchtturms mit einer sanften Gischt zu umspülen. Der Leuchtturm bemerkte das natürlich sofort, ließ sich aber nichts anmerken. Er stand stramm da und rührte sich nicht von der Stelle. Zu wichtig war seine Aufgabe. Da ließ das Meer größere Wellen an die Klippen tragen, doch der Leuchtturm ließ sich wieder nichts anmerken und stand einfach stramm da. Da wurde das Meer wütend und jedes Mal, wenn sich dem Leuchtturm in der Nacht ein Schiff näherte, schlug das Meer so große Wellen, dass es das Schiff verschlang und dieses nie wieder auftauchte. Doch der Leuchtturm stand nur da und rührte sich nicht von der Stelle.
Da versuchte es das Meer mit einer List. Das Meer änderte jeden Tag sein Aussehen und richtete sich für den Leuchtturm besonders schön her. Einmal ließ es eine Schule Babydelfine in der Abendsonne am Horizont vorbeiziehen. Ein anderes Mal schimmerte es dem Leuchtturm etwas in allen erdenklichen Grüntönen vor. Doch der Leuchtturm stand stramm da und tat so, als würde er es nicht bemerken. Da kräuselte sich das Meer in eine riesige Wasserhose, in der lauter Meerjungfrauen tanzten, und der Leuchtturm gab sich immer noch uninteressiert. In der Nacht reflektierte das Meer das Licht des Leuchtturms in Tausenden kleinen Wellen und leuchtete zurück zum Leuchtturm. Das Licht, mit dem die kleinen Wellen spielten und das auf den Wänden des Leuchtturms zu sehen war, gab den Anschein, der Leuchtturm würde mittanzen. Doch der Leuchtturm tanzte nicht mit.
Da wurde es dem Meer zu blöd und es zog sich zurück. Auch das rührte den Leuchtturm nicht, außerdem musste das Meer mit der Flut ohnehin wieder zurückkommen, das hatte der Mond schon vor langer Zeit beschlossen. Also musste das Meer immer zur Zeit der Flut zu dem Leuchtturm zurückkehren. Und so sah der Leuchtturm dem Meer und bei allem, was es unternahm, um auf sich aufmerksam zu machen, zu. Doch der Leuchtturm rührte sich nicht von der Stelle, stand stramm da und knipste jede Nacht sein Licht an. So vergingen die Jahre und egal, was das Meer machte, der Leuchtturm reagierte nicht.
Da kamen die neuen Zeiten und der Leuchtturm wurde nicht mehr gebraucht. Es wurde ihm sogar verboten, in der Nacht sein Licht anzuknipsen. Es gab niemanden mehr, der sich um den Leuchtturm kümmerte, und so wurden auch seine Bodensteine durch Wind, Sturm und Salzwasser immer lockerer. Schließlich fingen sie an zu wackeln, und brachen heraus. Der Leuchtturm, der sein ganzes Leben lang stramm auf der Klippe gestanden hatte und sich nicht bewegt hatte, fing an, zu wackeln, erst ein bisschen, dann immer mehr. Es dauerte nicht lange und der ganze Leuchtturm fiel krachend von seiner Klippe hinunter ins Meer. Langsam sank er immer tiefer und lag schließlich am Grund des Meeres. Da kam das Meer, stellte ihn wieder auf und erlaubte ihm sein Licht anzuknipsen.
„Na, Meer, hast du jetzt endlich, was du wolltest?”
„Nein”, antwortete das Meer. „Was soll ich denn mit einem Leuchtturm, den keiner mehr braucht?”
Das war das erste Nicht-Unglück des Leuchtturms, das er zählen konnte.